Logo / Link:  Startseite
Harfenspielerin im Dom / Titelbild
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
g
2014
g
2013
g
g
g
g
g
g
g

Sponsored by
g g
g
g
g Link: Wormser Zeitung Link: Stadt Worms
g
g g
g
g
g


wh

„Ach, Schaharasad, erzähle deine schönen Geschichten!“

Begleitwort von Oberbürgermeister Michael Kissel

So wird die Erzählerin in der andalusischen Handschrift „Hundertundeine Nacht“ aus dem Jahr 1234 aufgefordert, den König zu unterhalten. Die Arabistin Claudia Ott hat die Erzählungen, die sich außer der Rahmenhandlung kaum mit der bekannteren Überlieferung von „Tausendundeine Nacht“überschneiden, übersetzt und erzählt sie heute jedermann, der zuhören will, so auch beim dritten Festival „wunderhoeren – Tage alter Musik und Literatur in Worms“. Der Bezug von Literatur und Musik, der Rückblick auf die Künste von Antike bis Renaissance und die Präsentation an historischen Orten gehören zum Konzept des Festivals, das 2011 von Volker Gallé ins Leben gerufen wurde. Die Blütezeit der Stadt Worms ist die Zeit der Staufer und des Nibelungenliedes im 12. und 13. Jahrhundert und das drückt sich aus in bedeutenden Bauten der Romanik und Gotik, vom Domüber die ehemaligen Stiftskirchen St. Andreas, St. Paul und St. Martin und die Raschisynagoge bis hin zu Liebfrauen. Die mittelalterliche Stadt fußt auf den Fundamenten und Strukturen der römischen Gründung, in der Reformation erneuerte sich die Antike hier im Zeichen der Gewissensfreiheit, als Luther auf dem Reichstag 1521 den Widerruf seiner Schriften verweigerte. All das fließt ein ins Festivalprogramm und kreuzt sich mit Perspektiven der Gegenwart.
In der Metropolregion Rhein-Neckar gab es zuvor kein Festival, das sich dieser Thematik annahm Worms leistet auf diese Weise also auch einen Beitrag zur Regionalkultur. Gefördert und unterstützt wird „wunderhoeren“ von der BASF seit 2011 als Hauptsponsor, dafür ein herzliches Dankeschön.
Mit einem lokalen Programm zur Ausstellung „Ritter! Tod! Teufel?“ des Landesmuseums Mainz zu Franz von Sickingen im Rahmen der Lutherdekade beteiligen sich die Stadt Worms und das Festival auch gern an einem Projekt des Landes Rheinland-Pfalz. Auch mit der Kultursommerreihe„Via Mediaeval“ gibt es wieder eine Kooperation. Der Kultursommer fördert dankenswerterweise auch die Uraufführung „Rheingold“ von Rüdiger Oppermann. Ein Dank gilt auch unserem Medienpartner Wormser Zeitung sowie den Festivalpartnern an den Veranstaltungsorten, der Bürgerschaft sowie dem Publikum, das aus weitem Umkreis das besondere Angebot gern wahrnimmt, um alten und anderen Kulturen zu begegnen. Ich lade Sie herzlich ein, bei einem oder mehreren Besuchen in Worms, in die alten Kulturen Europas und des Orients einzutauchen und dabei auch die alte Stadt am Rhein und ihre Geschichte/n kennenzulernen.

Michael Kissel
Oberbürgermeister der Stadt Worms.




Grenzenlose Vielfalt

von Marc Lewon

Die Reichhaltigkeit an Inhalten und Interpretationen der Musik zwischen Antike und Renaissance hat sich in den vergangenen Jahren so gut bewährt, dass auch die dritten Tage alter Musik und Literatur in Worms „wunderhoeren 2015“ dieser Vielfalt verpflichtet bleiben. Gleichwohl haben wir wieder Schwerpunkte gesetzt, die dem Programm eine Richtung geben: Das ist in diesem Jahr besonders die Musik und Literatur des deutschsprachigen Raums.

Angesichts eines angehenden, europaweiten Trends zur Nabelschau – gleich ob in nationaler, religiöser oder kultureller Hinsicht – ist es dabei erfrischend, zu sehen, wie wechselseitiger Austausch über die Sprachgrenzen hinweg die Literatur und Musik des deutschen Mittelalters zu dem geformt hat, was wir heute mit ihr verbinden und an ihr schätzen.

Das beginnt schon mit dem Antiken- Programm des Ensembles musica romana, das Visionen keltischer und germanischer Musik neben die Klänge der römischen Antike stellt und somit den Stämmen nördlich der Alpen Gehör verschafft. Ein Echo dieser Klänge hallt aus dem hohen Norden mit der Musik der Wikinger wider: Das Duo Miriam Andersén & Poul Høxbro aus Skandinavien lässt in seinem Programm die Instrumente dieser nordgermanischen Stämme zu Texten und Melodien erklingen, die teilweise über Jahrhunderte mündlich tradiert wurden. Knochenflöten, Leiern und Kuhhörner begleiten Texte, die von Göttern, Zwergen und Helden erzählen. Mit einer Lesung des Schweizer Lyrikers Ralph Dutli aus dem „Liebesbestiarium“ des Richard de Fournival – musikalisch umrahmt von der Sängerin Cora Schmeiser mit ihrem Programm „Vögel und Blumen“ – zeigen die Künstler, wie stark Musik und Dichtung des frühen Minnesangs von Bildern und Formen geprägt wurden, die aus dem französischen Raum des 12. und 13. Jahrhunderts stammen. Das Ideal der höfischen Liebe, der „Minne“, fand seinen Weg über die Sprachgrenze auch durch solche Vermittler wie den flämischen Minnesänger Hendric van Veldeke, der direkt an dieser Grenze wohnte und sowohl das Französische als auch das Deutsche beherrschte. Mit „Süßkind von Trimberg – Der Minnesänger mit dem Judenhut“ widmen sich Lothar Jahn und Hans Hegner dem einzigen jüdischen Minnesänger aus dem berühmten Codex Manesse. In ihrem Programm, das in der Raschi- Synagoge einen würdigen Veranstaltungsort gefunden hat, zeigen sie auf, wie jüdische Kultur und mittelhochdeutscher Spruchsang eine einzigartige Verbindung eingehen. Sabine Lutzenberger und Norbert Rodenkirchen spinnen diesen Faden weiter und präsentieren in ihrem Konzert „Sangsprüche Meister Frauenlobs“ Melodien des einflussreichsten Musikers unter den Minnesängern: Heinrich von Meißen, genannt „Frauenlob.“ Die einzigartige Kunst dieses heutzutage selten zu hörenden Meisters prägte Generationen von Sängern und Dichtern im ausgehenden 13. und 14. Jahrhundert und hatte Konsequenzen, die die Musik des deutschsprachigen Raums bis in die Neuzeit hinein beeinflusste. Im angehenden 15. Jahrhundert erstarkte eine neue Laienfrömmigkeit, die „Devotio Moderna“. Mit ihr einher ging eine frische Schlichtheit in der Lieddichtung, die bereits die Reformation vorauszuahnen scheint. „Les Maries du Rhin“ mit dem Ensemble Ars Choralis Coeln präsentiert die Musik dieser Bewegung, die sich wieder entlang der französischen Sprachgrenze vom niederdeutsch-flämischen Raum den Rhein hinunter ausbreitete und in vielen Liederbüchern dieser Zeit bezeugt ist. Das Englische A-capella-Ensemble Gallicantus stellt eine Messe des Renaissancekomponisten Cipriano de Rore in den Mittelpunkt seines Programms „Praeter rerum seriem“. Mit dem Programm „Die Wittembergisch Nachtigall“ schließlich setzen der Sänger Franz Vitzthum und der Lautenist Julian Behr musikalische Akzente zur Lesung „Aus dem Bergwerk – Drei Sätze Luthers“ von Christian Lehnert und zollen damit der Lutherdekade Tribut, die noch bis ins Jubiläumsjahr der Reformation 2017 deutschlandweit in zahlreichen Veranstaltungen gefeiert wird.

Der große Bereich von Veranstaltungen, die sich im weitesten Sinne der historischen Kultur des deutschsprachigen Raums annehmen, wird ergänzt um Konzerte, die den Bogen auf die umliegenden Lande ausdehnen: Das Ensemble Santenay gastiert mit seinem Programm „Pres du Soloil“ im Roten Haus und präsentiert die verfeinerte Musik Frankreichs im ausgehenden 14. Jahrhundert. Die Programmeinführung dazu wird von dem renommierten Musikwissenschaftler Philipp Zimmermann gestaltet. Wie schon in den Jahrhunderten zuvor, beeinflusste die französische Kultur auch zu dieser Zeit noch ganz unmittelbar ihre östlichen Nachbarn: die Kompositionen des Programms finden sich z. T. auch in deutschen Handschriften wieder und solche Größen wie Oswald von Wolkenstein verfassten neue Texte darüber. Mit „Klangwelten im Dom“, einem Stationenkonzert im Wormser Dom, schließt der Reigen von Konzerten mit Ensembles für Alte Musik. Die Ensembles Leones und peregrina haben unter der gestalterischen Leitung von Marc Lewon dafür ein Konzept entwickelt, das den Dom nicht in seiner Gesamtheit zum Klingen bringen soll, sondern ihn als eine Ansammlung von mehreren, akustisch weitgehend abgetrennten Räumen auffasst. Diese werden im Verlaufe eines Wandelkonzerts einzeln mit Kompositionen des 12. bis 15. Jahrhunderts zu musikalischem Leben erweckt.

Eine weitere Reihe von Konzerten aktualisiert alte Stoffe durch Verbindungen zu neuer Musik oder der traditionellen Musik anderer Kulturen. Rüdiger Oppermann erzählt mit der Uraufführung „Rheingold“ musikalisch und literarisch die Geschichte/n des Rheins und nutzt dafür sowohl den Nachbau alter Instrumente als auch Bezüge zu den Kulturen der Welt. Das Programm „Hundertundeine Nacht“ von Claudia Ott und Hadi Alizadeh mit Lesungen aus einem arabischen Geschichtenbuch, das im Andalusien des 13. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde, stellt die Verbindung des europäischen Kontinents mit den Einflüssen aus dem Orient her. Die erst 2010 entdeckte Handschrift verspricht dabei neue Einblicke in eine alte Welt, die schon das mittelalterliche Abendland faszinierte. Ashok Nair und Ismael Rodriguez weiten den Horizont nochmals aus und bringen die Welt der indischen Musik in den Fokus: Eine Welt einstimmiger Modalitäten, die viele Aspekte mit der Ästhetik mittelalterlicher Einstimmigkeit teilt. Der begleitende Vortrag über Hugo von Dalberg hilft, den Kontext dieser Musik besser zu verstehen.

Mit dem mittelalterlichen Markt, dem „Spectaculum“, und parallel stattfindenden Instrumentalworkshops erhält das Festival einen öffentlichen Angelpunkt, auf den die „Carmina Burana“ mit dem Projektchor der Wormser Kantorei und Rancunculus sowie einem Bürgerchor hinweisen. Das Ensemble der Nibelungenliedgesellschaft und das Ensemble I Ciarlatani greifen die Bearbeitungen des Nibelungenstoffs im 16. Jahrhundert auf. Renaissance und gegenwärtige Komposition treffen im Konzert des Ensemble Paulinum während der Wormser Kulturnacht aufeinander. Das umfangreiche musikalisch-literarische Programm wird durch eine Anzahl von Vorträgen flankiert, die tiefere Einblicke in eine Geschichte versprechen, die in den Konzerten zum Leben erweckt wird.

Wir hoffen, mit diesem vielseitigen und bunten Veranstaltungsprogramm ein Publikum begeistern zu können, das sich auf eine Spurensuche nach den Wurzeln europäischer Kultur begeben möchte und das bereit ist, sich in den farbenreichen Klängen zu verlieren und wiederzufinden.




Rhein – Mittelmeer – Orient

von Volker Gallé

In seinem Rheinbuch von 1935 erzählt der französische Historiker Lucien Febvre den Rhein gegen die nationalistisch motivierten Grenzkonflikte seiner Zeit als mitteleuropäischen Strom, „eine riesige Verbindungslinie zwischen der Nordsee und den asiatischen Meeren“, als Teil eines Verkehrsweges, „der über den Gotthard und Genua bis ans Mittelmeer“ reicht „und über die Donau, Konstantinopel und Kleinasien bis nach Bagdad und zum Persischen Golf.“

Der Rhein, das Mittelmeer, der Orient erzählen ihre Geschichte fließend ineinander, färben eine Kultur, die nur mit Gewalt in Einzelteile zu trennen ist. Die Einflüsse allerdings können bei gutem Willen gegenseitig nachvollzogen werden.

Es kommt daher vielleicht nicht von ungefähr, dass Febvres Schüler und Kollege Fernand Braudel sein, die Geschichtswissenschaft prägendes Buch, „La Méditerranée“ (Das Mittelmeer) von 1949 als Kriegsgefangener der Deutschen in den Jahren 1940 bis 1942 in Mainz entworfen hat. Zum Einen kommen sowohl Febvre (Franche-Comté) als auch Braudel (Lothringen) aus dem Osten Frankreichs, wuchsen also in einer romanisch-germanisch gemischten Kulturtradition auf, zum Anderen hatte Braudel 1930 bis 1932 in Algier gelebt und dadurch das „mittelmeerische Denken“ kennengelernt. Und Braudel war 1925/26 als Soldat der französischen Besatzung im Rheinland gewesen. Es mischen sich also persönliche Erlebnisse und Erfahrungen in einer Zeit von einseitiger Entfremdung, die das Entfernte klarer sehen lässt. Die Gefangenschaft lehre „Geduld und Toleranz“, meinte er rückblickend: „Ich musste damals versuchen, all die Ereignisse, von denen wir über den feindlichen Rundfunk und die feindliche Presse erfuhren...zurückzudrängen...Ich musste mir einreden, dass die Geschichte und das Schicksal in sehr viel tieferen Schichten aufgezeichnet werden...Weit entfernt von uns Menschen mit unseren täglichen Sorgen schrieb sich die Geschichte; ihr Rad drehte sich nur langsam.“ (S. 191) Statt Personen, Zahlen und Ereignisse zu verknüpfen zeichnete Braudel einen Kulturraum mit lange Zeit wirkenden Lesarten. Wie Febvre den Rhein in erster Linie als Bewegungsraum beschreibt, aus dem notwendigerweise Begegnung folgt, so Braudel das Mittelmeer in seiner Eignung als Transportfläche. Ausgehend vom westlichen Mittelmeer erfasst er auch die Einflüsse des Orients, u. a. durch die Nutzung arabischer Quellen. Damit verortet er sich in einem narrativen System europäischer Geschichtsdeutung, das auf antike Wurzeln zurückblicken kann.

So gibt es in der Antike eine ethnografische Geschichtsschreibung der Himmelsrichtungen, die sich u. a. in den Bildern der Winde ausdrückt. Der Westwind Zephyr bringt den Frühling, der Südwind Notus den Sommer, der Ostwind Euros den Herbst und der Nordwind Boreas den Winter. Alle Winde wiederum sind Kinder des Astairos (Abenddämmerung) und der Eos (Morgenröte) und damit des Okzidents (Sonnenuntergang) und des Orients (Sonnenaufgang). Den Himmelsrichtungen wurden auch Völker und Eigenschaften zugeordnet. So wurden im Norden die Hyperboräer angesiedelt, die jenseits des Nordwinds leben. Ihnen wurde eine Nähe zu Apoll zugeschrieben. Der Nordmythos wird bis heute immer wieder aufgegriffen, von Tacitus bis Montesquieu und Herder germanisch-republikanisch, danach germanisch-deutschnational und heute im Bild des liberalen, wohlfahrtsstaatlich, protestantisch- individualistischen Skandinaviens.

Der Süden wird als Gegenbild entworfen, dionysisch, durch Fülle sowohl begeisternd wie lähmend. Camus beispielsweise beschreibt das „mittelmeerische Denken“ in seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ von 1951 als anarchosyndikalistisch: „Als die cäsarische Revolution über den Gewerkschaftsgeist gesiegt hat, verlor das revolutionäre Denken in sich selbst ein Gegengewicht, dessen es sich nicht, ohne zu verfallen, berauben kann. Dieses Gegengewicht, dieser Geist, der dem Leben Maß gibt, ist derjenige, der die lange Überlieferung dessen erfüllt, was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem, seit den Griechen, die Natur stets mit dem Werden im Gleichgewicht stand. Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist. Gemeinde gegen Staat, konkrete Gesellschaft gegen absolutistische Gesellschaft, überlegte Freiheit gegen rationale Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen Kolonisierung der Massen.“ (S.390) Bei Camus ist die Freiheit nicht nördlich, sondern südlich, und zwar eingebettet in soziale Systeme, die von unten durch Zusammenschluss gesteuert sind. Die Freiheit des Nordens wird bei ihm als Freiheit der Wenigen oder gar Einzelner zur Tyrannei.

Kirchen sind geostet, nach Jerusalem ausgerichtet, in den Sonnenaufgang. Aus dem Osten kamen aber auch über Jahrhunderte politische Gefährdungen des Westens, Steppennomaden und der Islam. Gleichzeitig steht die Wiege der europäischen Kultur in Mesopotamien und Ägypten, in den Stromländern und ihren Bauern- und Stadtkulturen. In seinem 1920 erschienenen Buch „Der Rhein als Schicksal“ schreibt der in Wiesbaden geborene Schriftsteller Alfons Paquet: „Wissenschaft vom Ganzen der Welt und Erweckung aller sind echte Ostgedanken. Dem Westen ging in jeder Richtung die Einheit verloren. Der Aufbau der Einzelwissenschaften führte zum Untergang des Gedankens der Wissenschaft ebenso wie der Ausbau der Einzelvölker zum Untergang des Bewusstseins der Menschheit geführt hat. Die Sonderungen waren stärker als das Einende. Im Ostmenschen ist es umgekehrt.“ (S. 127)

Gemeint ist der Westen von Aufklärung, Nationalismus und Weltwirtschaft mit durchaus unterschiedlichen Facetten von Hoheitseroberung über Diskurs, Politik und Ökonomie. Aber es gibt auch den Westen des Entdeckers, der Neugier auf das Unbekannte, den Westen der Offenheit, wie er in den irischen Reiseerzählungen ins westliche Meer beschrieben wird, den imramha von Bran oder Brendan, die auf kleinen Lederbooten allein oder mit wenigen Gefährten den Aufbruch ins westliche Meer wagen, wo sie ein frühlingshaftes Paradies vermuten. Einheit gegen Vielfalt – eine gewalttätige Alternative. Beliebter ist im europäischen Sprachgebrauch „Einheit in Vielfalt“ als Motto, aber wie geht das? Diversität ohne Kooperation bedeutet Zerfall, auch gegenseitige Gewalt. Im Osten zeigt sich das an dem, was die europäische Aufklärung orientalischen Despotismus genannt hat als eine misslungene Variante der Sehnsucht nach Menschheit in göttlicher Berührung, wie sie etwa von Tolstoi oder Sufimystikern wie Mevlana gelingend formuliert wurde. Einheit ohne Gewalt, aus der Freiheit des Einzelnen ist ein Weg von politischem und gesellschaftlichem Diskurs, von Kultur und Kunst, von religiöser Demut. Lernfelder, Gesprächsfelder sind notwendig, wenden die Not. Das braucht Zeit, braucht Verlangsamung ohne Abwendung.

Die Dekonstrukteure des Narrativen sitzen dem Ingenieurmythos auf. Sie wissen genau, dass alle diese Geschichten, zumal sie ja „alte maeren“ sind, aufgedeckt werden müssen, um das darunterliegende Bauprinzip zu sehen. Das aber muss technisch sein, eine Konstruktion, in der Regel menschlicher Selbsttäuschung. Nicht nur, dass dabei übersehen wird, dass dieser Ansatz selbst eine ungeprüfte Voraussetzung, mithin ein Narrativ, ist, er übersieht auch die sinnstiftenden Strukturen der narrativen Dramaturgie wie Steigerung und Entspannung, Prozesse der Verwandlung durch Einsicht. Ich plädiere dafür, erst mal im Feld der Kulturwissenschaft zu bleiben und die Phänomene wahrzunehmen, zu vergleichen und auf ihre Vorformen und ihre Chancen für den Diskurs zu untersuchen. Gerade erleben wir ja einen schwierigen Ost-West-Diskurs, sowohl in Osteuropa als auch im Nahen Osten. Und in der EU erleben wir die unterschiedlichen Wirtschaftskulturen des Nordens und Südens. Wieso gibt der wirtschaftliche Norden nicht dem genossenschaftlichen Prinzip des Südens eine Chance statt eine Entscheidung zwischen Staatskorruption und Neoliberalismus zu verlangen?

Kultur lebt sowohl in geografischen und politischen Räumen als auch in Worten, Tönen, Bildern und Bewegungen. Und diese Ebenen der Wahrnehmung und Tätigkeit sind nicht eindeutig. In lebendigen Gebilden, seien sie individuell oder kollektiv, fließen sie ineinander, überschneiden und überdecken sich, wirken in der Tiefe oder an der Oberfläche, stehen einander gegenüber und bewegen sich aufeinander zu. Es braucht einen wachen Geist, Selbstbewusstsein, Freude am Kontakt und Zeiträume der Begegnung, um kreativ mit all dem umzugehen. Verlangsamung ist in globalen Zeiten notwendig, um bewusste Verarbeitung und Aneignung der Vielfalt zu ermöglichen. Man kann nicht überall im Inneren eines Gebildes sein, aber man kann die unterschiedlichen und vielfältigen Färbungen als Bereicherung wahrnehmen und zu Erkenntnispfaden ausweiten.

Ein Festival wie „wunderhoeren“ ermöglicht das: historische Orte, oft auch stille Orte im Geschehen, Rückwendungen zu prägenden, aber fremd gewordenen kulturellen Mustern, gegenwärtige Vermittlung in Vortrag, Lesung, Konzert und Workshop. Es braucht spezifische Vorinformationen, aber auch das Einlassen auf Fremdes und es braucht künstlerische Bearbeitung und Verdichtung, dramaturgisches Gespür auf der Bühne. Im Festivalprogramm 2015 fließen viele kulturelle Einflüsse von Rhein, Mittelmeer und Orient zusammen: Römische, germanische und keltische Musik in Mitteleuropa, aber auch in Skandinavien, aus dem Romanischen inspirierter Minnesang, der auch von jüdischen Künstlern aufgegriffen wurde, Begegnungen mit arabischer Kultur aus Spanien und der Entdeckung indischer Kultur um 1800, die schöpferische Sprachkraft der Reformation und schließlich ein neues Klang- und Wortbild des Rheins als Zusammenfluss der Kulturen in einer Uraufführung.

Ich freue mich auf Ihren Besuch und wünsche Ihnen eine spannende und sinnstiftende Entdeckungsreise in die Kultur von der Antike bis zur Renaissance an Orten in Worms, die zu einem großen Teil auch baulich damit verbunden sind. Die Stadt Worms eignet sich als eine Stadt der erzählten Geschichte, en gros und en detail, für solche temporären Urlaube vom Alltag.




Die Wormser Museumswoche
„Alte Musik und Literatur“ für Schulklassen

von Dr. Olaf Mückain

Der höfische Spielmann des Mittelalters hatte viele Berufungen. Er war nicht nur Geschichtenerzähler, Dichter und Musiker, sondern auch Schauspieler, Tänzer und Zauberer. Im Nibelungenlied schickte Etzel seine Spielleute sogar als Diplomaten an den Burgundischen Königshof nach Worms.
Während unserer Museumswoche vom 9. bis 13. November 2015 werden wir einen solchen „Mittelalter-Allrounder“ in den malerischen Innenhof des spätromanischen Andreasstifts bitten. Seine Darbietung ist eine von vielen attraktiven Veranstaltungen, welche das hier vorliegende pädagogische Programm für Euch und Sie bereithält.
Gemeinsam freuen wir uns auf eine neue Runde von „wunderhoeren“. Das Nibelungenmuseum begleitet das Wormser Festival für alte Musik und Literatur erneut mit Konzerten, Vorträgen und Workshops für Schulklassen aller Altersstufen und Schultypen. Das Programm orientiert sich dabei an den Lehrplänen der Unterrichtsfächer DEUTSCH und MUSIK. Die Angebote sind für Schulklassen kostenfrei.
Von welchen Wundern und Mären der Spielmann uns wohl zu berichten weiß? Wir laden Euch und Sie zu „Wunderhoeren“ und „Wundersehen“ ganz herzlich ein.


g
Link: Stadt WormsLink: BASFLink: Startseite